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Der Raus-Virus

Wo landen Sie denn?

Stefan Brackmann, 3. August 2024 03:00 Uhr

Er kam durch die Hintertür, aber scheint extrem ansteckend zu sein..

In der letzten Zeit häufen sich die Meldungen von Menschen, die sich in ihrer Heimat Deutschland nicht mehr wohlfühlen. Sie sind von einem neuen Virus befallen, dem Raus-Virus, eine Art Fluchtreflex.

Viele Dinge spielten sich parallel ab, aber der Namensgeber des Virus ist schnell gefunden: Sprüche wie „Raus aus dem Euro“, „Raus aus der EU“ oder „Raus aus der NATO“ führen automatisch zu einem Raus-Reflex. Man möchte nur noch weg, hat es den Anschein. Selbst Deutschland steht immer öfter auf der Raus-Liste.

Bei einigen Zeitgenossen konnte das Virus daher nur durch eine Ortsverlagerung, im medizinischen Bereich spricht man wohl von Luftveränderung, bekämpft werden. Gesellten sich doch etliche Nebenbeschwerden wie massive Verfolgung, Berufsausübungsverbote und andere Unannehmlichkeiten hinzu.

War man zu Anfang noch interessierter Zuschauer und konnte das Verhalten einiger Zeitgenossen durchaus nachvollziehen, drängt sich für mich aktuell eine andere Sichtweise auf. Diese gründet auf ein breites Spektrum an Zutaten, die mir so wichtig erscheinen, dass ich diese Zeilen hier schreibe.

Eine Raus aus…-Strategie ist in meinen Augen destruktiv und wenig hilfreich. Basiert sie doch in vielen Bereichen auf Fehlannahmen, wenig Kenntnis der Lage und vielen Informationen, deren Quellen man nur schwer verifizieren kann. Solche Informationen haben im Zeitalter der Info-Wars massiv überhandgenommen. Wenn ich mir die Vielfalt an Nachrichten in den sozialen Medien anschaue, ist in meinen Augen eine überwiegende Anzahl an Postings mit fehlerhaften Informationen unterlegt. Diese sind überwiegend der Sensationsgier geschuldet (ein weiteres modernes Virus?) verbunden mit gut aufbereiteten und breit gestreuten Fehlinformationen.

Nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Der Austritt Großbritanniens aus der EU führt zu immer größer werdenden Problemen dort. Besonders aktuell ist zum Beispiel die Versorgung mit vielen Dingen, wie Obst oder Schnittblumen massiv gestört. Die finanzielle Situation hat sich deutlich verschlechtert, viele Spediteure kommen nur mit mehreren Tagen Verzögerung an den Lieferort und einige Spediteure überlegen sich teilweise, die Destination aufzugeben. Hier wurde ein Referendum im Jahr 2016 mit knapper Mehrheit (52 % zu 48 %) gewonnen, weil seinerzeit zum Beispiel mit fehlerhaften und völlig überzogenen Zahlen hantiert wurde. Heute berichten viele Medien über die aktuelle Unzufriedenheit der Briten, neuere Umfragen bestätigen, dass sie den Austritt rückwirkend als Fehler betrachten.

Nicht alles, was in der EU erarbeitet wurde, ist gut. Doch einer der wichtigsten Faktoren ist der grenzüberschreitende Güterverkehr, der Zollformalitäten deutlich erleichtert hat. Das wird in Großbritannien gerade deutlich sichtbar. Die EU muss auch in meinen Augen reformiert werden, greift sie doch immer stärker in die Souveränität der Mitgliedsländer ein. Aber das ist ein anderes Thema.

Die NATO ist ein weiteres Beispiel, welches aktuell auf der Raus-aus-Liste gerne aufgeführt wird. Grund ist der Focus auf die kriegerischen Auseinandersetzungen, die uns alle aktuell bewegen und auch räumlich und emotional näher rücken. In 75 Jahren Frieden haben wir dieses Thema immer weiter von uns weggeschoben, fühlten uns in unserer Wohlstandsblase wohl und trafen auch fundamentale Fehlentscheidungen. Die Abschaffung der Wehrpflicht wurde seinerzeit noch begrüßt.

Besonders bezeichnend ist der Umstand, dass die langjährige Friedensbewegung, die sich ja auch in der aktuellen Regierungskoalition betätigt, Kriegshandlungen mit unterstützt. Findet hier aktuell ein Umdenken statt? Wo ist die Diplomatie, die hier Einfluss nehmen könnte und Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen einfordert oder sogar begleitet? Hier ist nicht nur unsere Verteidigungsbereitschaft, sondern auch unser langjähriges und international anerkanntes diplomatisches Geschick auf der Strecke geblieben.

Viele Raus-aus…-Rufe wollen sich ein neues Leben schaffen. In der Regel sollen kleine, abgeschlossene Strukturen geschaffen werden, so etwas wie eine Gesellschaft in der Gesellschaft. Meistens im ländlichen Umfeld, manchmal großspurig mit der Forderung nach dem Aufbau eines neuen Landes oder gar mit einem König an der Spitze. Wie sich solche Gemeinschaften entwickeln, steht in den Sternen. Ich bin in der Beziehung sehr skeptisch, sind doch die Protagonisten meistens im besten, leistungsfähigen Alter. Was passiert in den nächsten 20 Jahren? Wie sieht die medizinische Versorgung aus, was passiert, wenn aus welchen Gründen auch immer sich ein Mangel an notwendigen Gütern einstellt. Hier lässt sich aus der historischen Entwicklung nichts Gutes erahnen.

Alle diese Forderungen und auch später die darauf fußenden Entscheidungen sind so ist mein Selbstverständnis für jeden selbst zu treffen. Sie zeugen jedoch davon, dass viele in unserer Gesellschaft nur noch digital denken und entscheiden. Ja / Nein; Schwarz / Weiß; Kaffee / Tee sind die Beispiele, die keine Abstufung zulassen. Zwischen Ja und Nein liegen mindestens 100 Schritte, die gegangen werden müssen. Um jeden Schritt muss verhandelt, vielleicht auch gestritten werden. Das scheint jedoch nicht mehr gefragt zu sein.

Unser Demokratieverständnis scheint auf der Strecke geblieben zu sein. Vieles haben wir in den letzten 40 und mehr Jahren wohlwollend angenommen, unseren in Generationen aufgebauten Wohlstand und unser Ansehen in der Welt. Die damit verbundenen Mühen und Entbehrungen werden immer mehr ausgeblendet, unser Bildungssystem ist von Gleichmacherei (auf immer niedrigerem Niveau) gekennzeichnet und Leistung wird eher belächelt, wenn nicht sogar kritisch hinterfragt. Wenn bereits die Produktion eines beliebigen TikTok-Videos als Leistung gilt und gefeiert wird, läuft in unserem Land etwas falsch.

Doch genau diese aufgegebenen Mühen und unsere in meinen Augen noch vorhandene Leistungsfähigkeit sind jetzt mehr denn je gefragt. Es gilt, eine gewachsene und gefestigte Demokratie aufrechterhalten, die aktuellen Herausforderungen anzunehmen und mitanzupacken. Unser Land hat es verdient.

Wer sich dieser Aufgabe entzieht, hat es nicht verdient, mir und anderen aufzuzeigen, was ich zu tun und zu lassen habe. Wer meint, sich mit einer Flucht vor seiner demokratischen Verantwortung drücken zu können, begeht in meinen Augen zwei Fehler auf einmal. Erstens verabschiedet er sich aus einem der nach wie vor demokratischsten Länder der Welt. Er begibt sich damit automatisch auf ein gefährliches Spielfeld an außerdemokratischen Möglichkeiten, ob es sich um Autokraten, Sozialisten oder noch schlimmeren Erscheinungsformen handelt. Und andererseits geht eine demokratische Stimme hier verloren, die die Zukunft unseres Landes hätte mitbestimmen können.


Stefan Brackmann
Bundesvorsitzender
DIE FÖDERALEN