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Die Hantel-Gesellschaft

Wie Zusammenleben nicht funktioniert

Stefan Brackmann, 14. Juli 2024 08:00 Uhr

Wir können diskutieren.

Es muss nun bereits über 20 Jahre her sein, da fiel mir eine Grafik in der FuW (Finanz und Wirtschaft) auf. Diese hat versucht, das Abstimmungsverhalten in den USA über einen langen Zeitraum zu dokumentieren.

Es ergab sich im Verlauf ein interessantes Bild: Aus den beiden politischen Lagern waren früher bei einzelnen Themen immer Abweichler zu verzeichnen. Im Verlauf wurden die Abstimmungen immer homogener und die Grafik konzentrierte sich an den beiden Endpunkten. Es erinnerte mich an eine Investment-Variante im Terminmarkt, die sogenannte Burbell-Strategie. Dort werden zwei entgegensetzte Instrumente eingesetzt. Das Schaubild erinnert an eine Hantel, daher der Name. In einem gestrigen Gespräch kam mir der Gedanke, dass sich unsere Gesellschaft aktuell auch diesem Bild immer weiter annähert.

Mir fällt immer wieder ein fehlender Meinungspluralismus auf, auch wenn jeder von sich behauptet, offen und gesprächsbereit zu sein. Der Nebensatz, der verschwiegen wird, lautet in etwa so: …wenn der andere meine Meinung annimmt.

Man ist erst einmal gegen alles, was einem neu und ungewohnt erscheint, was man nicht versteht oder verstanden hat. Der Aufwand, sich zu informieren ist hoch, anstrengend und anspruchsvoll. Wie einfach kann man sich doch unter Gleichgesinnten informieren, ob diese über entsprechende Kenntnisse verfügen oder sich nur in ihrem Narzissmus sonnen, bleibt ungefragt.

Wenn man sich nun die gegensätzlichen Meinungen auf einer Skala von -100 bis + 100 vorstellt, dann kann sich jeder, der diesen Artikel liest, genau definieren, wo auf der Skala sich der jeweils andere, nicht der eigenen Meinung entsprechende Teil der Gesellschaft befindet. (Pause zum Nachdenken!)

Man selbst ist ja offen für Gespräche und steht einem Diskurs nicht im Weg, oder?

Stellen wir uns diese Grafik einem in unseren Augen vor. Jeder Punkt auf der Grafik ist beispielsweise ein Schritt. Ja, damit ist der One Step for Men auch in meinen Gedanken aufgetaucht! Dieser Vergleich ist auch nicht so verkehrt, wie sich gleich herausstellt.

Wie weit ist der andere nun von uns entfernt, wie viele Schritte sind erforderlich, um auf den jeweils anderen zuzugehen?

Wie weit würden wir gehen wollen, um auf den anderen zuzugehen?

Wer diese Fragen ernsthaft beantwortet, wird die grundlegende Problematik, die dahintersteckt, schnell erkennen.

Wer nur bereit ist, diese Entfernung mit Trillerpfeifen auf einer Veranstaltung oder anderer technischer Hilfsmittel zu überbrücken, stellt damit seine angebliche eigene Gesprächsbereitschaft nicht nur in Frage, sondern zerstört sie damit. Wer nicht mehr bereit ist, eine andere Meinung zu akzeptieren, hat bereits aufgegeben, diese Gesellschaft zusammenhalten zu wollen. Wer nicht mehr bereit ist, kontroverse Informationen aufzunehmen, kann sich auch nicht mehr mit diesen auseinandersetzen und sich in die Lage und Gefühlswelt des vermeintlichen Gesprächspartners hineinversetzen. Wie viele Schritte sind wir bereit, aufeinander zuzugehen, um unsere Gesellschaft wieder zusammenzuführen. Mal muss der eine mehr Schritte machen, mal der andere. Bei einer immer weiter fortführenden Spaltung wird der Abstand fast unüberwindbar und bedarf großer Anstrengung. Wer nicht mehr bereit ist, sich weiterzuentwickeln, zu informieren, zu bilden und gegebenenfalls auch seine Meinung anzupassen, kann die Distanz kaum bewältigen.

Für die völlig Isolierten ist selbst der eine, erste Schritt bereits nicht mehr zu leisten, erfordert er doch das Eingeständnis, sich zu lange in seiner Wohlfühloase ausgeruht zu haben.

Eine Gesellschaft lebt von Gegensätzen, vom gemeinsamen Austausch darüber. Nur so kann man sich weiterentwickeln und eine lebenswerte Zukunft gemeinsam gestalten. Man kann allerdings nicht bei allen Themen einer Meinung sein, das muss eine gute Gemeinschaft aushalten können.


Stefan Brackmann
Bundesvorsitzender
DIE FÖDERALEN