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Jenga mit verbundenen Augen und Ski-Handschuhen

Wie unsere Gesellschaft sich selbst zerstört

Maren Zaidan, 9. Januar 2025 11:00 Uhr

Ich muss an mich denken und für mich etwas tun, mich schützen!

Unsere Gesellschaft macht sich immer mehr selbst kaputt, verstrickt sich in Widersprüche, steht kurz vor dem Zusammenfall, aber will es nicht verstehen. Inzwischen liest man täglich Nachrichten, die nicht mehr zu glauben und dennoch wahr sind. In den meisten Fällen wird nur noch kurzfristig oder an sich selbst gedacht, ohne zu sehen, was das für Konsequenzen hat. Alles, was im Moment passiert, ist nicht in einem Artikel fassbar. Die meisten folgenden Umstände und Verhaltensweisen sind nur Beispiele, die natürlich nicht immer und nicht auf alle zutreffen, doch im Gesamtpaket mit allem anderen sind sie fatal.

Fangen wir im Privatleben an. Viele Menschen, speziell junge Menschen, verbringen enorm viel Zeit in den Sozialen Medien. In den letzten Jahren wurden immer wieder Rituale, Verhaltensweisen und Umgangsformen zu Trends, denen jeder nachging, der etwas auf sich hält, aber nicht nachdenkt. So gibt es auch Dating-Trends. Wer einmal den Fehler macht so etwas aus Spaß zu lesen, bekommt dank der Algorithmen mehr davon und das ist leider nicht mehr amüsant! So datet man bei einem Trend nicht mehr Menschen, die potenzielle Partner nach dem eigenen Geschmack sind, sondern Menschen, welche den eigenen Status oder das eigene Ansehen erhöhen, wenn man sich mit ihnen zeigt. Was auch immer dabei zählt, die andere Seite wird dabei nicht beachtet und der ursprüngliche Sinn von Dates ist scheinbar verloren gegangen. Noch viel kälter ist der Trend des sogenannten Winter Coatings. Hier pendelt man über die kalte Jahreszeit, in der doch keiner gern allein ist, einfach wieder mit alten Partnern an und lässt sie nach den Feiertagen oder wenn die Frühlingsgefühle erwachen, wieder fallen. Hat einer der Teilnehmer jemals daran gedacht, was das eventuell für den Partner bedeutet, der vielleicht tatsächlich naiv glaubt, dass es doch noch etwas wird? War da überhaupt jemals etwas ehrliches, wenn man jemanden so etwas antun kann, der mal der eigene Partner war? Oder ist das ganze einfach eine enorme Selbstüberschätzung, bei der andere schon ganz gut passen, aber man immer noch etwas Besseres braucht?

Gleichzeitig werden Safe Spaces gefordert, immer wieder davon gesprochen, wie viel mehr Rücksicht die guten und modernen Menschen nun aufeinander nehmen und an alles eine Triggerwarnung gepackt. Es ist scheinbar schick Diagnosen wie ADHS, Hochsensibilität, Posttraumatische Belastungsstörungen oder Autismus zu erhalten, doch warum müssen wir so dringend dran arbeiten mehr Menschen krank zu machen? Wir beklagen Einsamkeit auch bei jungen Menschen, aber die Magazine, Zeitungen und Blogs schreiben über unmenschliche, uneinfühlsame Trends wie über einen neuen Kleidungsstil, die sicher jedem steht. Selbst wenn all diese Phänomene zuerst immer in kleineren Gruppen auftreten, merkt man, wie all diese Phänomene mit der Zeit Normalität werden.

Weil ich diese ganzen Trends in Verhaltensweisen missverstehe, wird viel für Fairness getan. Leider wird dabei fast nie Fairness angestrebt, sondern einfach das Verhältnis umgedreht, so dass wieder benachteiligt wird - nur andere Gruppen. Warum kann man nicht einfach merken, wie ungerecht manche Dinge sind und dann versuchen alle gleich zu behandeln? Bei Einzelfällen von Opfern wird davor gewarnt, dass Opfer zu Tätern werden können, weil die innere Wut über das Geschehene zu groß ist. Warum können wir diese Erkenntnis nicht auf die Gesellschaft anwenden?

Passend dazu gibt es eine neue Moral der Offenheit, welche in Wirklichkeit eine neue Verschlossenheit hervorruft. In vielen Fällen kann gar kein Konsens mehr gefunden werden, weil alle möglichen Themen so moralisiert wurden, dass niemand mehr die Ansichten mit den anderen abgleicht. Teilweise entstehen durch diese neue Form der Offenheit falsche Vorannahmen, die alles schlimmer machen und zu unnötigem Frust, Rückzug und Enttäuschung führen. Die Annahme, 60 Prozent der Bevölkerung würden diese neue Moral einfach falsch verstehen und 80 Prozent wären einfach zu ungebildet, ist pure Ignoranz.

In meinem Artikel über die Probleme in der Wissenschaft schrieb ich, dass das ganze zu einem Jenga-Turm wird, der droht zusammenzubrechen. Bereits an dieser Stelle erwähnte ich die Gesamtgesellschaft. Egal in welchem Zusammenhang und auf welcher Ebene, sich selbst aufwerten, andere abwerten und lügen gehört in dieser Gesellschaft zum guten Ton. Wer dies nicht tut, ist raus und wird ausgelacht. Es geht nicht anders. Sagt man. Auf einem niedrigen Level kommt es auf diese Weise immer wieder zu schockierenden Momenten. Denn manchmal fliegt auf, dass die aufbauschenden Lügen überzeugender waren als die Wahrheit, aber ein Lügengerüst weder nötige Leistung noch gewünschte Werte hervorbringen kann. Im Gesamtgeschehen stellt sich die Frage, wie lange dieses Lügengerüst noch gut geht. Wenn Selbstdarsteller Selbstdarsteller fördern, aber hinter all dem nicht mehr viel steht, wie wollen wir etwas erreichen? Wann hören wir auf zu sagen, dass Selbstüberschätzung wichtiger als Wissen ist und es ohne Lügen nicht geht?

Das Wichtigste ist, anders zu sein. Also nicht anders. Anders sein ist natürlich absolut nicht erwünscht. Anders sein heißt, anders sein als das, was Trendsetter und Influencer verteufelt haben. Aber dann doch ein Abziehbild dieser Vorbilder zu sein. So sollen Authentizität und Einzigartigkeit geschaffen werden. Warum der gefühlte Druck in einer Gesellschaft, die sich immer mehr gegen Leistungsdruck stellt, trotzdem weiter zunimmt, beantwortet sich für jeden, der mitdenkt.

Viele der neuen Moralvorstellungen über einen fairen Umgang miteinander und neue Werte rühren im Grunde aus einer Gleichsetzung von der Wahrnehmung einzelner Traumatisierter und der normalen Wahrnehmung. Man berücksichtigt nicht mehr, wie jemand mit gewissen schlimmen Erfahrungen etwas Schlimmes mit einem Wort oder einer Handlung verbindet, aber dieses Wort oder diese Handlung im Grunde neutral sind. Man pauschalisiert und heilt weder Betroffene, noch bewertet man diese Worte und Handlungen wieder korrekt. Teilweise findet sich nicht einmal ein Opfer, sondern bestimmte Gruppen behaupten, andere fanden etwas verletzend. Damit wird niemand geheilt, problematische Verhaltensweisen werden weitergegeben und der Umgang miteinander wird immer schwieriger, da immer mehr anders gemacht werden muss. Am Ende der Geschichte rufen auch die neuen Dinge negative Assoziationen hervor - und dann?

Auch hier spielt die Selbstdarstellung eine große Rolle. In vielen Fällen erhalten wahre Opfer keine Hilfe, weil sie aufgrund ihrer Situation nicht in den Sozialen Medien große Shows aufbauen können. Stattdessen steigern andere sich in übertriebene Geschichten rein, holen sich Aufmerksamkeit und machen es den richtigen Opfern schwerer. Denn entweder erhalten nur die mit großer Show Hilfe und Aufmerksamkeit oder die Gesellschaft wird genervt von gewissen Gruppen und nimmt auch echte Opfer nicht mehr ernst.

Die Probleme ziehen sich durch alle Bereiche. Die Bildung der Bevölkerung hat abgenommen. Man findet Bewertungen immer diskriminierender und meint, KIs machen gewisse Anforderungen unnötig. Die KI wird richten, was die Menschen nicht können. Die KIs müssen von Menschen lernen. So lernen KIs die Fehler von Menschen und korrigieren die Menschen zu Fehlern. Egal, ob es Rechtschreibung betrifft oder die KI wieder einmal einem Jugendlichen eine unmoralische Empfehlung gibt.

Im Grunde steht hinter allem einfach der Wunsch, selbst endlich glücklich und erfolgreich zu sein oder wirklich alte Probleme zu lösen. Doch wie oben gesagt, all der Schmerz und all die tatsächlichen Probleme, geben nicht das Recht zu Rache, Egozentrismus und Verletzung von anderen (unschuldigen)! Auf dem Weg in eine fairere, gesündere Welt, sind wir auf den Weg der Selbsttraumatisierung geraten. Manche Menschen handeln auch so, dass es ihnen ernsthaft immer wieder schadet. Doch um nicht so zu sein wie das Bild, was sie sich verteufelt haben, stellen sie sich ab und zu für zehn Minuten in Frage und machen dann weiter. Einfach aus Prinzip.

Und die Politik? Viele gesellschaftliche Fragen sind schwer direkt mit politischen Maßnahmen zu beheben. Doch die aktuelle Politik scheint viele Verhaltensweisen und Probleme nicht zu durchschauen oder durchschauen zu wollen. Zum Teil sieht man, wie künstlich geschaffenes Leid und fragwürdige Trends gefördert werden oder auch hier die Schaffung von Fairness mit einer Art Umkehrung in das andere Extrem verwechselt wird.


Maren Zaidan
Bundesvorsitzende
DIE FÖDERALEN